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Im Hier und Jetzt, in Siena sein.

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In die Städte New York und Venedig kommt man am schönsten über das Wasser. Bei Siena würde dieses Ansinnen nicht sehr weit führen. Siena möchte eigentlich nur über die Porta Camollia erkundet, besucht und verlassen werden. Dieses Stadttor im Norden eröffnet mir Siena auf die schönste Weise. Leise, unaufdringlich und gelassen beginnt hier die Via Camollia und führt leicht geschwungen in das menschendichte Zentrum Sienas.

Noch außerhalb, auf der Viale Vittorio Emanuele II, befindet sich direkt vor dem Stadttor die kleine "Bar Peru". Hier beginnt meine Stadtreise mit einem schlichten Caffè. Die positive Anspannung steigt und ich beginne eine kontemplative Tour durch Stadt und Gedanken. Das geht nur alleine.

Betritt man durch die Porta Camollia die Stadt, so steht man vorerst auf der Piazza Guido Chigi Saracini. Von hier kann man einen schönen Blick auf das Umland werfen, im Schatten rasten und sich an dem Brunnen mit dem wolfsköpfigen Wasserspeier laben. Hier nehme ich in der Bar/Ristorante "Aula Regis" einen Limoncello, klackernd auf Eiswürferl serviert.
Sollte "meine" Contrada, die Contrada dell´Istrice (Stachelschwein), den Palio gewinnen, so dient dieser Platz der Tage dauernden Siegesfeier und der Verhöhnung der anderen, im Galopp unterlegenen Contrade.

Die Via Camollia ist für mich etwas ganz Besonderes. Hier lebt der Einzelhandel, es werden Mopeds repariert, Kleider genäht, Spielzeug verkauft und die guten, kleinen Osterie haben ihre zwei Tische draußen stehen. Touristen tauchen nur in homöopathischen Dosen auf, die Gegend gehört der Jugend. Und so beginnt die Stadt von hier aus sich ganz vorsichtig zu öffnen, gibt nicht alles auf einmal Preis, sondern lässt in wohldosierten Einheiten die Schönheiten an einem vorbei ziehen. Vorbei ziehen hier auch bis tief in den nächtlichen Morgen die männlichen Partypeople, allerdings auf mehr als 50 Kubik und nicht unter 70 Sachen. Man sieht sie dann am nächsten Tag humpelnd, mit dem Arm oder Bein in Gips, aber nicht eine Minute früher zu Bett gehen.

Gleich am Anfang der Camollia, auf der rechten Seite, befindet sich die Osteria Titti. Ein wunderbar simpler Ort für regionale Küche und zupackende Weine. Doch dazu später, am Rückweg. Die Dichte der Osterien nimmt zu, "La Piana", "La Magione" und der gourmetdekorierte "Enzo" grüßen den alten Bekannten still. Aus der Ruhe wird langsam Tempo, die Camollia geht über in die Via dei Montanini und schön langsam bringen die Touristen ihre grell-lauten Farben in die erdfarbene Stadt. Mehr Geschäfte, mehr Motorini, mehr Menschen, höheres Tempo - die beschauliche Übergangsphase geht zu Ende - nicht jedoch die alles aufsaugende Aufmerksamkeit eines Rückkehrers, der sich wie ein Heimkehrer fühlt.

Zeit verwandelt sich in Raum. Der sonst so kurze bis nicht existente Augenblick des Jetzt dauert an. Wenn man das tut, was einem höchste Freude bereitet; wenn man dieses Erleben bewusst wahrnimmt, dann beginnt das Jetzt zu einem Hier zu werden. Aus einer linearen Vergänglichkeit wird ein Raum, begrenzt von einer Stadtmauer.

Die Camollia hinter mir und die Montanini unter den Sohlen, nähere ich mich dem touristischen Zentrum der Stadt, begleitet von immer beliebigeren Geschäften und Touristenshops. Das gehört dazu, wie auch das Ristorante Il Biondo, ein international gut besuchtes Lokal, das aber die Bodenhaftung nicht verloren hat. Wer gegrillte Steinpilze schätzt, ist hier am richtigen Ort. Gegenüber bei Vitti schmecken sie auch nicht schlechter.

Von rechts kommt die Piazza Giacomo Matteotti, mit ihr Unmengen an Menschen, und vereint sich mit der Montanini vor einem schönsten Platz zur Via Banchi di Sopra. Dieser Platz, die Piazza Salimbeni, ist relativ schlicht. Um 800 nach Christus in etwa restauriert, schließt in ihrem Rücken der Palazzo Spannocchi ab, dankenswerter Weise jedoch mit ein paar Steinstiegen davor. Auf diesen Stiegen, oder aber auch auf den Stiegen der mittig gelegenen Statue des Sallustio Bandini, kann man wunderbar auf Freunde warten, den Eisessern vom gegenüber gelegenen Nannini beim Schlecken und Anpatzen zusehen oder einfach nichts tun und die Gedanken fliegen lassen wie die Tauben vor der ältesten Bank der Welt, der Monte dei Paschi. Eben diese Bank befindet sich im Palazzo Spannocchi. Innen von Geld verachtender Architektur, zeigt der Palazzo außen seine trutzburgische, gotische Fassade, die so wunderbar zum Wesen einer Bank passt. Hier ist sich Siena ganz nahe.

Auf der schmalen Banchi di Sopra befinden sich am linken Rand "Bänke". Hier sitzen in der Regel ältere und alte Herren, das Hemd bis zum Nabel offen, die Glatze blank wie die geputzten Schuhe glänzend. Sie betrachten das touristische Treiben und amüsieren sich sichtlich über Verhaltenseigenheiten der Besucher in ihren kurzen, bunten Hosen und seltsamen Sonnenhüten. Gerne nehmen sie sich Zeit für einen Schwatz - eine gute Gelegenheit, sein Toskanisch aufzufrischen und gemeinsam mit den Herren verschmitzt hinter den obligaten Sonnenbrillen zu lächeln.

Die Geschäfte werden eleganter, die berühmte Konditorei der Nanninis stellt Ricciarelli und Panforte in ihren Auslagen in Szene und die Straße fällt langsam in Richtung Piazza del Campo ab. Ich biege zuvor links weg und folge den Pfeilen, die zur Trattoria Tullio "Ai tre Cristi" weisen. Auf der Via die Rossi liegt auch die gleichnamige Osteria, ein Ort schlichter Gemütlichkeit und kerzengerader Gasthausküche. Bei Cantucci und Vin´Santo kann hier die Zeit zwischen Hauptgang und Rechnung wunderbar gedehnt werden.
Die Trattoria Tullio gibt es seit 1830, wahrscheinlich auch, weil die Patrone es verstehen, ihr Angebot an die Zeit anzupassen. Bei Tullio gibt es schnörkellose Toskanaküche wie Acqua Cotta (gekochtes Wasser, eine Gemüsesuppe mit Brot; sprich Akua Hotta), aber auch einige elaboriertere Gerichte. Der Gastgarten in der schmalen und schattendunklen Gasse wird hübsch eingedeckt und bleibt bis tief in die Nacht begehrter Hotspot reiseführerausgestatteter Touristen aus der ganzen Welt. Der Tullio ist kein Geheimtipp.

Der Geheimtipp kommt jetzt und ist natürlich schon lange keiner mehr: Die Osteria Il Grattacielo (der Wolkenkratzer), ein "Loch" im Durchgang von der Via dei Termini zur Via delle Terme. Weiße Neonlampen, vier Tische, ein paar kalte Häppchen und Warmes nur für Stammgäste, und die sollten Senesen sein. Hier plädiere ich für ein Ansehen von außen und ein Respektieren einer Rückzugsnische für Ansässige. Wer es nicht lassen kann, wird eh enttäuscht sein von der Kargheit des Angebots und dem sauren Zupacken eines heurigen Chianti. Trotzdem ein ein Atout-As bei langweiligen Authentizitätsdebatten …


Die Anziehungskraft der Piazza del Campo ist hier schon immens, doch wie soll man der Piazza am besten begegnen? Ein ähnliches Problem erlebe ich bei warmen Vorspeisen der Spitzengastronomie: Wie soll ich beginnen? Womit soll ich den Anfang machen …?
Für mich habe ich den idealen Weg gefunden: Ich betrete die Piazza erst gar nicht, sondern betrachte sie aus der besten Position, die man dazu haben kann. Es ist dies der Balkon der Bar Paninoteca S. Paolo. Diese Bar besticht einerseits durch hervorragende Sandwiches und gutes Bier bis weit nach Mitternacht, andererseits hat sie eben diesen wunderbaren Balkon, den keiner zu kennen scheint – ein Platz ist immer frei, direkt über der Piazza del Campo, über den Krimskramständen, über den Gastgärten, über den trommelnden Formationen für den Palio probender Jugendlicher, über den behüteten Köpfen japanischer Touristen – und direkt gegenüber vom Torre del Mangia. Dieser Luxus befindet sich in einem der Durchgänge, die hinunter zur Piazza führen.

Der Balkon besteht aus ein paar Barhockern an der Mauer und einem Lümmelpult für die Getränke, darüber eine Markise und das wunderbare Schauspiel darunter. Wieder ein Ort, an dem die Zeit anders als üblich fühlbar wird, sich dehnt und Ruhe bringt.
Auf der anderen Seite der Piazza, neben dem Torre, hat der Spizzico eine Filiale. Der Spizzico in Siena ist eine gute Möglichkeit, günstig und gut zu essen; die Pizzen sind hervorragend. Und wer genau schaut, erkennt hier an der Fassade drei Flaschen …

Um diesen Überblick auch haptisch zu erleben, sucht man sich am besten ein Platz auf der Piazza selbst, lässt sich auf dem Fischgrätterracottaboden nieder und betrachtet das Fassadenrund von der Froschperspektive aus. Die Wärme des Bodens hält die ganze Nacht über, mit ein Grund, hier die ganze Nacht zu verbringen. Ein paar Tage vor dem ersten Palio ist das nächtliche Treiben hier ganz besonders intensiv. Die Studenten der internationalen Universität bringen Lärm und Leben, die einheimischen Jugendlichen beeindrucken mit ihren Hämegesängen gegenüber den feindlichen Contrade und ein Trompeter verkündet Mitternacht. Tempus fugit, leider.

Hinter dem Torre befinden sich ein großer Marktplatz, der mittwochs bespielt wird, und die alteingesessene Trattoria Papei. Blickt man hinter dieser von der niedrigen Stadtmauer stadtauswärts, so befindet sich links unterhalb der Mauer schon wieder ein Geheimtipp: Der Tea Room P.ta Giustizia 11, der in der Hochsaison von 20 – 02 Uhr offen hat, Cocktails anbietet und einen Ort generöser Gelassenheit und Eleganz darstellt.

Ich verlasse das touristische Zentrum über die Via di Città, vorbei am Palazzo Chigi Saracini, in Richtung Ruhe. Diese finde ich in der Contrada della Tartuca, hinter der Via di San Pietro. Diese Contrada hat den letzten Palio gewonnen und darf dies demonstrieren. Aus allen Fenstern und Torbögen hängen die blaugelben Fahnen; die kleinen bunten Straßenluster geben dem Viertel etwas Verspieltes und vermitteln ein überbordendes Maß an Stolz und Lebenslust. Der Vicolo della Tartuca, eine Sackgasse, gibt einen weit reichenden Einblick in das (Privat-)Leben der Stadt, das stets über die Hausmauern hinaus auf die Straße reicht.
Die Via San Marco stadtauswärts bietet alle paar Meter eine neue Schön- und Erhabenheit baulicher Natur – speziell, wo sie mit der Via della Diana zusammenkommt und Il Bivio (der Scheideweg) genannt wird. Eine traumhafte Kirchenfassade mit einem im Jahr 1522 aus Travertin gebauten Brunnen davor, sicher eines der schönsten Fotomotive der Stadt.

Über die Via San Quirico, Via Paolo Mascagni und Via del Capitano erreicht man ungestört, bereits am Retourweg, den unvermeidbaren Dom von Siena. Etwas übermütig bei der Planung, jedoch durch die Kraft des Faktischen normiert, wurde eines der Seitenschiffe zum Hauptschiff des Doms, der trotzdem beeindruckt. Bergab geht es wieder zur Piazza del Campo, auf die sich die Abendsonne in allen erdfarbenen Rottönen bettet. Hier verrate ich einen letzten Geheimtipp: Blickt man auf den Torre, so ist in Richtung 10 Uhr, also links im Winkel, neben dem Souvenirgeschäft, eine kleine Bar. Hier nehme ich mir ein Flascherl Bier und wage mich durch die extrem schmale Wendeltreppe hinauf, gebückt durch einen schmalen Gang, hinaus ins Freie.

Wieder ist es ein Balkon, der im rechten Winkel das Eck auskleidet und der lokalen und internationalen Gioventù die Möglichkeit einräumt, einer Eroberung durch Kenntnis dieses Ortes zu imponieren. Sonnenbrillen sind obligat, so kann man auch die maximal 8-10 Personen heroben besser beim Interagieren beobachten. Wer sich weniger für Menschen sondern mehr für Steine interessiert, kann ja den zweitbesten Blick auf die Piazza genießen, die Wirkung der Sonne mit der Wirkung des Biers intensivieren und einfach nur träumen, dass die Zeit nie mehr vergehen möge. Unfassbar, dass sowohl die Bar S. Paolo wie auch dieser Wirt sich ihre Balkone nicht vergolden lassen.
Danke dafür.

Das Schlimmste, das mir in Siena widerfahren kann, ist Zeitdruck. Doch will ich später beim Titti ausreichend Zeit für die Trippa haben, so müssen einige wesentliche Stationen meines Sienabildes oberflächlich besucht und bedacht werden. Dazu gehört das Viertel zwischen der Via d. Galluzza und dem Barone Rosso in der Via dei Termini, dem Absackerlokal schlechthin in Siena. Hier befindet sich das Billighotel La Perla, einige nette Bars und die sympathische Einkaufstraße Via delle Terme. Piazza Matteotti, Via del Paradiso und die Kirche San Domenico hebe ich mir für den nächsten Besuch auf.

Zurück in der Via Camollia finde ich Platz auf einem der zwei Tische der Osteria Titti, die so oft in den letzten Jahren geschlossen hatte, wenn ich wieder einmal in Siena vorbeigeschaut hatte.
Alleine zu essen ist erst seltsam, dann umso kontemplativer. Die Zeit ruht wieder in sich, wird aber von Wein und Brot, Pici mit Steinpilzen, Trippa Senese und einem Caffè klar gegliedert. Glück bedeutet bewusst erlebte Zeit, und Glück bedeutet diese Zeit bei Titti in der Camollia genießend zu erleben. So einfach ist das. www.speising.net/essen/detail/7109_DE_O/

Für die nächsten Tage bin ich austherapiert, die Erinnerung nehme ich als emotionalen Anker mit hinaus, heraus aus Siena, heraus aus dem Stadt gewordenen Augenblick tiefster Zufriedenheit.

Gregor Fauma

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nicht bewertet + Liebling der Redaktion

empfohlen am 12.09.11 @ 22:53

Stationen

1) Bar Peru' (I - Siena): Noch außerhalb, auf der Viale Vittorio Emanuele II, befindet sich direkt vor dem... [mehr]

2) Aula Regis (I - Siena): Betritt man durch die Porta Camollia die Stadt, so steht man vorerst auf der... [mehr]

3) Osteria Titti (I - Siena): Gleich am Anfang der Camollia, auf der rechten Seite, befindet sich die Osteria... [mehr]

4) Ristorante Il Biondo (I - Siena): Die Camollia hinter mir und die Montanini unter den Sohlen, nähere ich mich dem... [mehr]

5) Pasticcerie Nannini (I - Siena): Die Geschäfte werden eleganter, die berühmte Konditorei der Nanninis stellt... [mehr]

6) Tullio Ai Tre Cristi (I - Siena): ie Trattoria Tullio gibt es seit 1830, wahrscheinlich auch, weil die Patrone es... [mehr]

7) Il Grattacielo (I - Siena): Der Geheimtipp kommt jetzt und ist natürlich schon lange keiner mehr: Die... [mehr]

8) Bar Paninoteca S. Paolo (I - Siena): Diese Bar besticht einerseits durch hervorragende Sandwiches und gutes Bier bis... [mehr]

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