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Trends in der Gastronomie oder: Die Atomisierung des Genusses

03.04.06 @ 22:12

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Ketchup mit Pommes im Dreisterne- oder Vierhaubenlokal? — Das wird bald nichts Ungewöhnliches mehr sein. Man muss es nur so machen, wie es Heston Blumenthal, von Gastro-Auguren als derzeit „bester Koch der Welt” gefeiert, in seinem 40 Kilometer westlich von London gelegenen Gourmet-Pub „The Fat Duck” in Bray recht drastisch vorhüpft: Zuerst werden die exakt gleich groß geschnittenen Kartoffelstäbchen in Wasser gekocht, danach im Vakuum getrocknet, anschließend bei 140 Grad in Öl frittiert, erneut getrocknet und zuletzt bei 180 Grad so lange gebacken, bis innen ein Hohlraum entsteht. Dann kann man ihnen mit einer Spritze Ketchup injizieren — und sie als perfekte Zutat zur Kalbsniere servieren.

„Es werden noch Zeiten kommen, in denen die Köche ihren Gästen gefüllten Schnittlauch servieren”, pflegte Altmeister Karl E. Eschlböck schon in den 80ern zu sagen — und hatte dabei stets die Lacher auf seiner Seite. Jetzt ist es tatsächlich soweit, und unter dem Stichwort „Molekulargastronomie” ist neben dem zum Stilwillen erklärten Minimalismus auch die Chemie in die Küchen eingezogen. Wer jemals bei Heston Blumenthal oder seinen Vorläufern und Weggefährten Marc Veyrat in Annecy, Pierre Gagnaire in Paris und vor allem Feran Adrià im „El Bulli” bei Barcelona gespeist hat, hat sich längst daran gewöhnt, nicht nur von Tellern zu essen, sondern sich diverse Infusionen auch aus Eprouvetten und Pipetten einzuführen oder an Spaghetti gelees zu lutschen, um am Gaumen die angekündigte „Geschmacksexplosion” zu erleben.

Eine ganz ähnliche Entwicklung ist zurzeit in der Weinbranche zu beobachten, in der die „Flying Winemakers” genannten neuen Wein-Gurus umgehen, um auch dem letzten Winzerlein im entlegensten Winkel Europas önologische Zaubertricks wie Umkehrosmose oder den Umgang mit der „Spinning Cone Column” (Schleuderkegel-Kolonne) beibringen. Während das erste Verfahren schlicht Wasserentzug zugunsten von höherer Konzentration bedeutet, wird der Wein in der Schleuderkegel-Kolonne regelrecht in seine Bestandteile Wasser, Alkohol und Extrakte zertrümmert, die der Winzer dann — quasi als önologischer Doktor Frankenstein — ganz nach Geschmack und persönlichem Belieben sowie notfalls mit jeder Menge künstlicher Aromazusätze neu „komponieren” kann. In der EU ringt man zurzeit — ohne großen Erfolg — um ein „Reinheitsgebot” für den Weinbau. In Küche und Keller zeichnen sich jedoch auch bereits „Pendelschlagsbewegungen” zum Chemo-Trend ab: Ausgerechnet aus dem österreichischen Traismauer kommt mit dem Succowell-Verfahren ein natürliches Gegenprinzip zur Molekularküche — und gegen den Siegeszug der „Atomweine” wird wohl letztlich immer noch ein naturbelassener Grüner Veltliner oder Blaufränkisch das beste Gegenmittel sein.

Trend 1
Molekulargastronomie: „Es ist eine traurige Erkenntnis, dass wir die Temperatur im Innern der Sterne besser kennen als jene im Innern eines Soufflés”, sagte Nicholas Kurti, der mittlerweile verstorbene Mitinitiator der 1992 in der sizilianischen Ortschaft Erice von Chemikern und Köchen begründeten „molekularen Gastronomie.” Sie versucht, neueste wissenschaftliche Erkenntnisse über Diffusion, Konvektion und Polymerisation in den Dienst des Genusses stellen. Mittlerweile wurde in Kopenhagen die erste Professur für molekulare Gastronomie eingerichtet, die Universität von Athen wird bald folgen. Die prominentesten Vertreter dieser Schule sind u.a. Ferran Adrià, Erfinder der Espumas und des Rindermark-Carpaccio sowie Heston Blumenthal, der Schöpfer von Nitro Green Tea aus der Spraydose und Sardinen-auf-Toast-Sorbet.

Trend 2
Succowell-Methode: Während die Molekulargastronomie der Gaumenlust alle denkbaren Technologien moderner Physik und Chemie nutzbar macht, setzt Rainer Melichar aus Traismauer mit der in seinem „Nibelungenhof” entwickelten Succowell-Methode nur auf einen guten Entsafter: Anstelle von Fleisch- oder Gemüsefonds verwendet Melichar ausgepresste Natursäfte von Gemüse und Obst. Melichar unterscheidet zwischen Natursucco (ungefiltert), Feinsucco (gefilterter Natursucco) und Kraftsucco (reduzierter Natur- oder Feinsucco) und eröffnet damit ein (auch HobbbyköcheInnen offen stehendes) weites Experimentierfeld für Suppen, Marinaden, Marmeladen, Sorbets, Saucen, Gelees oder Aufstriche, bei denen auf Salz und Würzmittel fast verzichtet werden kann.

Trend 3
Flying Winemaker: Um jenen Beruf zu ergreifen, dem heute weltweit höchste Karrierechancen eingeräumt werden, sollte man neben besten Beziehungen zu internationalen Weinjournalisten auch ein Diplom der Universität Bordeaux für Önologie und Weinbau in der Tasche haben. Der Begriff Flying Winemaker stammt aus Australien, wo man Ende der 80er-Jahre die Tatsache nutzte, dass europäische Önologen gerade dann am wenigsten beschäftigt waren, wenn auf der Südhalbkugel gelesen wurde. Mittlerweile jetten jede Menge Starönologen durch die globalisierte Weinwelt und müssen sich mitunter den Vorwurf gefallen lassen, für „gleichgeschaltete High-Tech-Weine” verantwortlich zu sein. Als berühmtester Flying Winemaker gilt der 58jährige Michel Rolland, als bestverdienende die Önologin Helen Turley , die vom US-Weinhändler Don Bryant ein Honorar von 250.000 Dollar erhielt, um 10.000 Flaschen Cabernet Sauvignon zu vinifizieren. Mittlerweile arbeitet Helen Turley nicht mehr fürt Bryant: Das Honorar war ihr zu niedrig.

Trend 4
Designer-Weine, auch: Frankenstein-Weine: So werden all jene Weine bezeichnet, die ihren Wohlgeschmack nicht nur der Natur und dem Geschick des Winzers, sondern auch der Verwendung von künstlichen Aromastoffen, Reinzuchthefen, Eichenchips etc. sowie hochtechnologischen Verfahren verdanken, die den Geschmack des Weines besser zum Ausdruck bringen, indem sie seine Natur verändern oder gar verfälschen. Typische Beispiele dafür sind Wasserentzug durch Umkehrosmose bzw. Vakuumdestillation sowie die auch „Fraktionierung” genannte Verwendung einer Spinnung Cone Column (SCC), die in Europa (noch) nicht erlaubt, aber sehr wohl „inoffiziell” schon verwendet wird. Experimentiert wird auch mit „Gen-Weinen”, da bestimmten Chromosomen bestimmte Aromen zugeordnet werden können.

Christoph Wagner

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