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Gefüllte Siebenschläfer - Teil 2

13.06.07 @ 19:07

Ich kaufte in einer Tabaktrafik ein paar Toscani, diese finsteren, wie kleine Baumstämme aussehenden und auch nach Wald und Torf schmeckenden Zigarren, die nur in solchen Weltgegenden wirklich ziehen, in denen ständig ein Wind weht, weshalb sie gerade in Meeresregionen so beliebt sind. Während ich die Toscani bezahlte – sie gehören zu jenen wenigen Zigarren, bei denen die Kosten nicht ins Gewicht fallen, und die daher auch von Archäologen geraucht werden können –, fiel mir auf einem der Ansichtskartenständer eine kleine Broschüre über Balaor ins Auge, auf deren Titelbild eine Luftaufnahme abgebildet war. Sie zeigte eine längliche Insel in unmittelbarer Küstennähe, deren Form an den Körper einer sitzenden Frau mit ausgesprochen guter Figur erinnerte, die sich gerade ihr T-Shirt über den Kopf zog. Das T-Shirt war der lange, schmale, fast weiße Sandstrand am Südende der Insel, während ich mich gerade zwischen Busen und Hüfte der Dame aufhielt.

Ich erwarb das Büchlein und erfuhr, dass das über eine schmale Dammstraße vom Festland her leicht erreichbare Eiland unmittelbar am 45. Breitengrad und damit exakt auf halbem Weg zwischen Äquator und Nordpol lag. Politisch lag Balaor unter kroatischer Oberhoheit, kulturell zählte es, wie an den zahlreichen Fotos von Märkten, Plätzen und Fassaden deutlich wurde, zum Erbe des versunkenen byzantinisch-venezianischen Weltreichs. Daran erinnerte, wie gleich im Einführungskapitel nachzulesen war, ein immer noch beträchtlicher italienischer Bevölkerungsanteil, der sich im Alltag in der südfriulanischen Mundart Balaoran verständigte. Kroatisch sprechende Balaoraner waren jedoch, wie das Büchlein nicht anzumerken vergaß, in der Mehrheit.

Beim weiteren Blättern stellte ich zu meinem äußersten Missvergnügen fest, dass allerlei kommunalen Attraktionen wie Thermalbädern und Aqua-Splash-Paradiesen bei der Schilderung der Schönheiten der Stadt breiter Raum gewidmet wurde, während das Heftchen mit kunsthistorischer Information eher geizte. „Meinem“ Lapidarium waren gerade einmal zwei Zeilen gewidmet, und auch die Krypta, die neben allerlei mumifizierten Heiligen immerhin die ausgestopfte Hand der heiligen Barbara barg, wurde in einem knappen Absatz reichlich dürr abgehandelt. Andererseits erfuhr ich, dass Balaor auf Deutsch Stiegenstadt heißt und die kleine Inselmetropole an ihrer Südostflanke in der Tat wie eine Stiege zum Meer hin abfällt. Seinen Namen, las ich weiter, verdankte Balaor jedoch der Tatsache, dass es in der Stadt, zumindest in den älteren Stadtteilen, kaum ein Haus ohne kleine Außenstiegen gab, die der dem Venezianischen verwandte Inseldialekt als Balaoren bezeichnete.

Hatte man für diese Besonderheit erst einmal den Blick geschärft, sah man sich allenthalben von Stiegenaufgängen und Treppchen flankiert, die nicht viel höher waren als die Stiegensteiger selbst, und die oft genug schon nach wenigen Stufen ins Nichts führten, weil sie lediglich der Stapelung von Lebensmitteln, Gießkannen, Kinderspielzeug, Reservereifen oder Blumentöpfen dienten. Vor allem aber dienten sie dem zumeist recht gesprächigen Austausch der, je nach Mentalität, faul oder tätig auf den Stiegen Herumsitzenden mit jenen, die gerade, mehr oder minder zufällig, daran vorbeizogen.

Obwohl das Lapidarium mitten im Herzen Balaors lag, war es gar nicht so leicht zu finden. Selbst wenn man unmittelbar vor der Euphemienkathedrale stand, wies keinerlei Schild darauf hin, dass es gleich um die Ecke eine der – zumindest unter Kunstkennern – bedeutendsten römischen Grabsteinsammlungen am ganzen Mittelmeer zu bewundern gab.

Man musste erst die halbe Basilika umrunden, bis man zu einem Gittertor gelangte, das für den Unwissenden recht verschlossen aussah und in einen kleinen Nebenhof mit üppigem Oleander- und Bougainvillea-Bewuchs führte. Hatte man freilich erst einmal erkannt, dass die Gittertür nur angelehnt war, gelangte man an einen verzauberten Ort, an dem man sich im Schatten einiger Olivenbäume auf einer Marmorbank niederlassen konnte und sich von steinernen Monumenten aus der Antike umringt sah. Besser, dachte ich, konnte man eine Sehenswürdigkeit gar nicht vor neugierigen Blicken der Öffentlichkeit verstecken.

Eine junge Frau, die auf der gegenüberliegenden Steinbank gerade ihr Kind mit einem Fläschchen fütterte und danach sanft in den Schlaf wiegte, zeigte mir jedoch, dass dieser stille, kontemplative Ort zumindest unter Einheimischen nicht ganz unbekannt war.

Es würde nicht ganz leicht sein, aus dieser schattigen Hinterhof-Oase eine Fremdenverkehrsattraktion zu machen, ohne ihren idyllischen Charakter dabei zu zerstören. Andererseits fielen mir mehr als genügend Versatzstücke ins Auge, die sich mit ein paar einfachen gestalterischen Tricks ins Zentrum des Interesses rücken ließen. Ich dachte dabei weniger an die dekorativen Zimboriumbögen mit ihren üppigen Kranz- und Pflanzenmotiven, auch nicht an den schönen Architrav mit den Akanthusbüscheln und dem Relief aus Efeu und Wasserblattwerk. Wesentlich besser gefielen mir die Sarkophagfragmente aus der Spätantike, die neben einem deutlich erkennbaren Pfau und einem an Weintrauben naschenden Sperling eine Gruppe von vier über den Meereswellen tanzenden Delphinen zeigten.

Museumsdidaktisch anregend fand ich vor allem auch den Steinsarg, der ein von Musen, Dichtern und Fahnenträgern umgebenes Ehepaar auf einem Trikliniumlager zeigte, das sich an einer opulenten Fülle von Speis und Trank labte. Selbstverständlich handelte es sich dabei nicht um ein weltliches Gelage, sondern, wie es sich für ein Sargrelief gehörte, um ein antikes Totenbankett, das für die beiden Verstorbenen aus Anlass ihrer Aufnahme in die Unterwelt ausgerichtet wurde. Trotz des traurigen Anlasses hatte die Szene etwas Beruhigendes, Tröstliches, ja sogar Bacchantisches an sich. Und als ich dann noch die schöne alte Zisterne sah, in deren Tiefe ich, etwa eine Handbreit hoch vom Wasserspiegel bedeckt, Dutzende von Münzen liegen sah, hatte ich plötzlich die Vision, dass man diesen kühlen Grund als natürlichen Weinkühlschrank nützen könnte, der das Lapidarium auch für archäologisch weniger interessierte Gäste von Balaor attraktiver machen könnte.

Während ich so unter den alten Olivenbäumen und umringt von den noch älteren Steindenkmälern über deren mögliche Zukunft sinnierte, stieg mir plötzlich ein betörender Duft in die Nase. Es roch nach Tomaten, Basilikum, Knoblauchöl und Tintenfischen. Ich folgte dem Odeur, das Schritt um Schritt intensiver wurde, bis ich vor dem Mauerloch stand, aus dem die Düfte drangen. Genaugenommen handelte es sich nicht um ein Loch, sondern um ein vergittertes Fenster, das mit ein paar morschen Brettern vernagelt war, zwischen denen allerlei Unkraut hervorquoll. An manchen Stellen war der Holzverschlag so porös, dass man hinüber ins Nachbargewölbe spähen konnte, wo sich, deutlich erkennbar, eine Küche befand. Dort werkte zwischen allerlei Töpfen, von aufsteigenden Dämpfen umwölkt, eine Köchin, deren Gesichtszüge ich nur schemenhaft wahrnahm. Es war daher auch nicht so sehr die Köchin selbst, die meinen Speichelfluss anregte, als vielmehr das, was sie gerade zubereitete.

Ich verließ also das Lapidarium und umrundete die Basilika in der Hoffnung, in einem der benachbarten Gässchen einen Durchgang zu finden, der mich an die gegenüberliegende Häuserfront und damit an den Eingang des Reiches meiner gastlichen Wirtin führen würde. Es dauerte nicht lange, bis ich das Basilikum-Knoblauch-Aroma wieder unter der Nase und ein bunt bemaltes Tavernenschild vor den Augen hatte, auf dem unter einem aus dem Panzer lachenden Taschenkrebs schlicht die Aufschrift „Fortuna“ stand. Ich beschloss also, zumindest für diese herannahende Mittagsstunde mein Glück zu machen, und trat ein.

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