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Gefüllte Siebenschläfer - Teil 4

22.06.07 @ 19:20

„Niemand, der etwas vom Kochen versteht, und mag er auch ein gelehrter Dottore sein, vermag sich vorzustellen, dass man Capellini d'Angelo tatsächlich wie einen Risotto zubereiten kann. Doch wenn man die Rezeptur erst einmal so beherrscht wie meine Gilda, dann saugt die Pasta das Meer auf, und die Pasta bewegt sich wie nach den Gezeiten ...“
„Er wird's schon von alleine merken“, unterbrach Gilda ihren Vater mit töchterlicher Strenge und verschwand in der Küche.

„Ist dir heiß?“, fragte Scaramuzza, der mich plötzlich duzte.
„Wie kommen Sie drauf?“
„Du schwitzt. Und außerdem siehst du nicht aus wie jemand, der an das Meer gewöhnt ist.“
„Ich habe etliche Jahre in Mexiko verbracht“, widersprach ich.
„Vermutlich im Gebirge“, entgegnete Scaramuzza mit einem listigen Lachen. „Wie heißt du eigentlich?“
„Mario Carozzi.“
„Klingt nicht sehr mexikanisch, oder?“
„Geboren bin ich in Südtirol, in der Nähe von Naturns.“

„Hab ich es nicht gesagt, dass du aus den Bergen kommst? Ich habe es an deinen Augen abgelesen. Eure Fische leuchten nicht! Wenn du im Meer das Licht der Sonne ausknipst, leuchten sie alle, von der kleinsten Qualle über die Seeschnecken und Heuschreckenkrebse bis hin zu den Hummern und den Langusten. Alle leuchten sie. Selbst die Meereswürmer leuchten. Knipse einmal in einem Gebirgssee das Licht aus, Carozzi, und du wirst sehen, dass ich recht habe. Nichts leuchtet da. Und dieses allgegenwärtige unterirdische Leuchten, das auch Menschenaugen zum Leuchten bringen kann, das fehlt euch Leuten aus dem Gebirge.“
„Bei uns leuchtet dafür sonst einiges“, widersprach ich beleidigt.
„Ja, Glühwürmchen“, höhnte Scaramuzza.
„Viel mehr als nur das. Noch nie was von Alpenglühen gehört?“
Scaramuzza kratzte sich erneut hinter seinem Ohrring.
„Jetzt hast du mich alten Fischersmann aber kalt erwischt. Von Alpenglühen verstehe ich nun wirklich nichts. Dafür muss ich mich wohl mit einem kleinen Verslein entschuldigen.“
„Gut gemacht, junger Mann“, applaudierte Il Tubo zwischen zwei hastig genommenen Schlückchen Malvasia. „So schnell rückt Boldo sonst nicht mit seinen Gedichten raus. Scheinst ihm sympathisch zu sein.“

Scaramuzza warf sich inzwischen vor seiner Macchinetta in Pose, und seine Augen blitzten dabei, als wäre er selbst einer der Leuchtfische, von denen er gerade gesprochen hatte.
„Das Meer“, sagte er. „Das Gedicht heißt: Das Meer.“
„Das kennen wir“, kicherte der Buschgrüne mit dem Leuchtstanitzel. „Aber keine Angst: Es ist kurz und eines seiner besten.“
Scaramuzza nahm sicherheitshalber einen Schluck Malvasia und atmete tief ein, als wolle er eine große Bassarie intonieren. Was er dann mit volltönenden Stimmbändern und einer dunklen, gutturalen Färbung, wie sie für den balaoranischen Inseldialekt charakteristisch ist, vorbrachte, hörte sich auch durchaus wie eine Arie an:

Ich spür das Meer, doch seh ich's nicht,
Ich hör wohl, wie die Welle bricht,
Ich riech wohl Algen in der Gischt
Und neide dem nichts, der drin fischt.
Das feuchte Salz netzt mir die Lippe.
Ich schmeck's selbst, wenn am Wein ich nippe.
Die Düne reflektiert das Licht.
Ich spür das Meer, doch seh ich's nicht.


„Applaus, Applaus!“, feuerte Il Tubo die Runde an. Doch kaum klatschten die ersten Hände, winkte Scaramuzza auch schon wieder ab, als wolle er noch eine Zugabe geben.
„Ich riech das Meer, ich riech das Meer“, setzte er noch eine kecke kleine Coda nach, „ich riech es von der Küche her. Los, Gilda, du bist dran!“
Gilda kam mit einer großen Steingutschüssel hinter dem Tresen hervor, die bis weit über den Rand mit Nudeln gefüllt war.

„Konoba alla Fortuna proudly presents“, deklamierte Scaramuzza mit dem gespielten Pathos eines Zeremonienmeisters, „Capellini d'Angelo al Risotto di mare.“
Geschickt verteilte Gilda mit einer Nudelzange den Inhalt der dampfenden Schüssel auf mehrere tiefe Teller. Den von Scaramuzza stellte sie auf den Tresen.
„Das sind Nudeln, das ist kein Risotto“, wandte ich skeptisch ein.
„Hüte deine Zunge, Mann aus dem Gebirge, und koste erst einmal!“ Während Gilda aus dem Tonkrug Malvasia nachschenkte, zog Scaramuzza, noch im Stehen, einen ärmellangen Nudelstrang an einer Gabel wie ein Schiffstau aus dem Schüsselrumpf hoch und ließ ihn in Sekundenschnelle in seinem Schlund verschwinden.
„Was schmeckst du, Carozzi?“, fragte er, nachdem er seinen Rachen wieder frei hatte.
Ich wickelte eine Engelshaarsträhne um meine Gabel, allerdings eine wesentlich fragilere als Scaramuzza, ließ die Nudeln auf meiner Zunge leicht anschmelzen und fühlte mich plötzlich, als wäre ich wieder in Mexiko.
„Ihr seid ganz schön freigiebig mit Chilis hier in Balaor“, sagte ich, durchaus positiv überrascht.
„Du meinst die Peperoncini“, sagte Scaramuzza, der mit meiner Antwort sichtlich nicht ganz zufrieden war. „Aber jetzt los, sag schon, was schmeckst du noch?“
„Allerlei“, antwortete ich arglos. „Etwas Knoblauch, Tomaten, Basilikum, ziemlich viel Olivenöl und natürlich Tintenfische. Aber nichts von einem Risotto.“
„Na, was empfindest du wirklich, Carozzi? Oder hast du einen Geschmack wie ein Schwamm, wie ein Fisch ohne Nerven und ohne Hirn? Wozu, glaubst du, habe ich zuerst extra für dich mein Gedicht aufgesagt? Also, du schmeckst ...“
„... das Meer?“, fragte ich zögerlich.
„Gewonnen, gewonnen“, wieherten Il Tubo und das leuchtende Stanitzel unisono.
„Und warum schmeckst du das Meer?“, fragte Scaramuzza so ungeduldig, dass er sich die Antwort auf diese Frage lieber gleich selbst gab. „Weil Gilda die Pasta wie einen Risotto gerührt und jede Nudel einzeln im Meeressugo gebadet hat. Los, Gilda, erklär ihm schon, wie du das machst.“
„Die Pasta mundet ganz hervorragend“, versicherte ich wahrheitsgemäß, aber nicht zuletzt, um Gilda nach Scaramuzzas Standpauke gewogen zu stimmen.
„Es ist ein sehr einfaches Rezept“, erwiderte Gilda, „und die Zutaten haben Sie ja ziemlich treffsicher erraten, war ja auch nicht schwer. Was es von anderen Pastarezepten unterscheidet, ist lediglich die Garung der Nudeln, die hier nicht gekocht, sondern im Sugo weichgerührt werden. Dabei gießt man, wie bei einem Risotto, immer wieder mit einem Schöpflöffel sprudelnd kochende Fischsuppe auf und lässt die Nudeln wie einen Risotto bei kleiner Hitze ganz langsam garziehen, bis sie weich sind und die gesamte Flüssigkeit aufgesogen haben. Dann kommt noch eine Prise Meersalz dazu und das Gericht ist fertig.“
„Zu Weihnachten hat Gilda dasselbe Rezept mit frischem Aal gemacht. Ein Gedicht“, lobte Il Tubo.
„Und zu meinem Geburtstag macht sie es mit einer Languste“, schwärmte Scaramuzza voll Vaterstolz. „Bei Gilda kannst du lernen, wie man kocht.“
„Ich werde mir Mühe geben, ein gelehriger Gast zu sein“, erwiderte ich artig, während ich mit dem größten Vergnügen meine Pasta aufaß.
„Wer war eigentlich dieser Lukobran?“, fragte ich so beiläufig wie möglich, nachdem ich meinen Teller mit einem Stück Weißbrot leergeputzt hatte. „Ich bin nämlich Augenzeuge seines tödlichen Unfalls geworden, oder zumindest fast. Der Engel hat den Mann fürchterlich zugerichtet.“
„Es war ja auch nicht irgendein Engel“, meldete sich Il Tubo zu Wort. „Der Erzengel Michael ist das Wahrzeichen unserer Stadt. Ein paar Jahrhunderte lang stand er auf dem Campanile der Kathedrale. Aber dann bekamen es die Stadtväter plötzlich mit der Angst zu tun, dass ihn der Maestral eines Tages zum Abheben ermuntern könnte. Die Sorge war nicht ganz unbegründet. Denn der Maestral ist, wie man bei uns in Balaor zu sagen pflegt, ein Wind, der einem Esel den Schwanz ausreißen kann. Also landete der Erzengel vor etwa dreißig Jahren auf seinem Sockel vor der Präfektur.“
„Das wird unseren Gast aus den Bergen herzlich wenig interessieren“, schnitt ihm Leuchtstanitzel das Wort ab. „Lukobran war, um Ihre Frage zu beantworten, Obmann unserer örtlichen Fischereigenossenschaft. Man könnte auch sagen, er war Fischereidirektor von Balaor. Das könnte man doch so sagen, nicht wahr, Boldo?“
Scaramuzza zögerte. „Zumindest hätte man es sagen können“, erwiderte er nach einer kurzen Nachdenkpause, „wenn ein paar Dinge anders gelaufen wären.“
„Anders als wie?“, fragte ich neugierig.
„Anders als sie es sind, lieber Freund.“
„Sie meinen, man hat ihn ermordet?“
„Nein, nein. Erzengel morden nicht.“ Scaramuzza schien mein Verdacht ausgesprochen zu amüsieren.
„Es sind aber nicht alle Menschen Engel“, erwiderte ich.
„Es sind aber auch nicht alle Menschen Mörder“, sagte Scaramuzza, „schon gar nicht hier auf unserer friedlichen Insel Balaor.“
Gilda hatte inzwischen meinen Teller abgeräumt.
„Wenn Sie Peperoncini mögen, wird Ihnen vielleicht auch das schmecken“, sagte sie und schenkte mir zum Abschluss noch aus einer Flasche, die einen halben Meter hoch war, eine ausgiebige Portion Grappa al Peperoncino ein.

Spätestens als das höllenscharfe Elixier wie ein Feuerball durch meine Speiseröhre schoss, wusste ich, dass ich mich hier in Balaor erstmals, seit ich Mexiko verlassen hatte, wieder so richtig zuhause fühlen würde.

Fortsetzung folgt

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