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Gefüllte Siebenschläfer - Teil 9
09.07.07 @ 20:58
Am nächsten Morgen machte ich mich zielstrebig auf den Weg zum alten Mandracchio-Hafen, in dem ein paar Fischkutter und Motorjachten vor Anker lagen. Was nicht vor Anker lag, war das erwartete Fährschiff. Dafür begegnete ich Il Tubo, dem Literaturfreund aus der Fortuna, der seiner zirrhotischen Leber gerade mit einem Gläschen Stock-Brandy einen guten Morgen wünschte. Er lehnte steif und schräg wie ein Besenstiel an der Theke eines kleinen Getränkekiosks an der Hafenmole, in dem eine Frau mit dünnem Gesicht und dicken Brillen Gläser abtrocknete. Hinter ihr stand eine ganze Batterie von halbvollen Schnaps- und Likörflaschen unter einem vergilbten Panoramaplakat der Wasserfront von Düsseldorf, wo es um diese Zeit sicher nicht so heiß war wie hier.
„Wir scheinen ein Faible für dieselben Wasserlöcher zu haben, Sportsfreund“, sagte Il Tubo und nahm einen kräftigen Schluck. „Auch einen Brandy?“
„Zu früh“, antwortete ich.
„Für den ersten Schluck am Tag ist es nie zu früh“, lallte Il Tubo launig zurück.
„Außerdem warte ich auf meine Fähre. Sie muss gleich da sein.“
„Welche Fähre?“
„Die hinaus auf den Archipel fährt. Ich hab auf der Katharineninsel was zu erledigen.“
„Sie ist schon vor einer Stunde abgefahren. Der nächste Kahn geht erst mittags.“
„Am Fahrplan steht's aber anders.“
„Das ist der Winterfahrplan. Im Sommer legen die Schiffe eine Stunde früher ab.“
„Ist aber nur ein Fahrplan da.“
„War wohl keiner da, um ihn auszutauschen. Wozu auch? Die Einheimischen wissen Bescheid, und die Touristen buchen ihre Rundfahrten ohnedies übers Reisebüro.“
„Wo kann man denn hier telefonieren?“, fragte ich. Il Tubo zuckte mit den Schultern. Die Dünngesichtige hörte für einen Augenblick mit dem Gläserabtrocknen auf und wies mit ihrer nicht minder dürren Rechten auf die andere Straßenseite, wo sich gleich neben der Fischmarkthalle ein öffentlicher Fernsprecher befand, der wie eine Attrappe aussah.
Wie zu erwarten, roch es unter der Plexiglashaube nach Fischabfällen, Seetang, Maschinenöl und abgestandenem Wasser, und das Gerät nahm mir zwar etliche Münzen ab, funktionierte aber, auch das war zu erwarten, nicht. Es sah so aus, als würde ich mein altes Bellerophon, das schwer wie ein Nussknacker war und irgendwo in meinem Reisegepäck steckte, hier in Balaor doch wieder revitalisieren und den ganzen Tag mit mir herumschleppen müssen.
„Gratuliere. Sie sind in ein Raum-Zeit-Loch gefallen“, sagte Il Tubo lachend. „Das verdient doch nun wirklich einen Brandy.“
Die Zeit schien in Balaor tatsächlich durchlässig wie ein Haarsieb zu sein. Mir war dennoch nicht nach Brandy, und mir fiel wieder ein, dass Scaramuzza gestern Mittag von einem Boot und Inselrundfahrten geschwatzt hatte. Genau an einer solchen hatte ich im Moment Bedarf, wobei mich die Vorstellung, dass Professore Belli auf dem Landungssteg seiner Insel auf mich wartete und nun wohl ohne mich wieder abziehen musste, bei allem Stoizismus, auf den ich sonst so stolz war, doch leicht beunruhigte.
Ich ließ Il Tubo, dessen Schräglage mittlerweile schon einen bedrohlichen Winkel angenommen hatte, einfach stehen und fand den Eingang zur Konoba Fortuna mit einem Gitter verschlossen, das sich jedoch zurückschieben ließ. Das Lokal war so menschenleer wie die Küche, doch aus dem ersten Stock hörte ich etwas, das wie eine Sportübertragung klang. Ich stieg die kleine Treppe hinauf und fand Scaramuzza, nur mit Boxer-Shorts und einem Unterhemd bekleidet, auf einer Plüschcouch, deren Federung sichtlich himmelwärts strebte, vor dem Fernseher lungern.
„Ah, Besuch“, sagte er wie aus dem Schlaf aufgeschreckt und blinzelte mich mit verklebten Augen an. Ich stammelte ein paar entschuldigende Worte und seine ohnedies tiefliegenden Lider senkten sich noch weiter nach unten.
„Montenegro gegen Mazedonien“, sagte er, als wolle er sich selbst am Wiedereinschlafen hindern. „Kein schönes Match.“
„Ist auch noch früh.“
„War gestern schon schlecht und wird in der Wiederholung nicht besser. Hat mich wohl wieder einmal der Pantagruel erwischt, dieses üble kleine Seeteufelchen, der unsereinem nächtens Salz in den Mund streut und durstig macht. Ohne dass wir was dafürkönnen.“ Um diese Theorie zu unterstreichen, schob Scaramuzza ein paar Salzmandeln ein, spülte sie mit einem langen Schluck Radenskawasser hinunter und rappelte sich von der Couch hoch.
„Du scheinst ja sehr schnell Gefallen an Gildas Kneipe gefunden zu haben“, sagte er und strich sich mit den Fingern durch seine in alle Richtungen auseinanderstiebende weiße Mähne.
„Es ist ein Notfall“, erwiderte ich. „Ich habe die Inselfähre versäumt und sollte jetzt schon drüben auf der Katharineninsel sein. Da ist mir Ihr alter Fischkutter eingefallen.“
„Geht's etwa zu Belli?“
Ich nickte.
„Eine famose Idee, zu mir zu kommen“, sagte er und rieb sich dabei die Augen. „Der Professore gehört nämlich nicht zu der Sorte Leute, die gerne warten. Lass uns über dein Problem doch unten bei einem starken Espresso weiterreden.“
Ich verstand den Wink, stieg das Treppchen wieder hinunter, drehte einen der Stühle um, die auf die Tische gekippt waren, setzte mich und wartete, bis Scaramuzza nach einer offensichtlich nur sehr oberflächlichen Katzenwäsche, aber immerhin angezogen, wieder zu mir stieß.
Der Espresso war noch stärker als der von gestern und versetzte meinen Magen in morgendlichen Aufruhr. Der Preis, den mir Scaramuzza für die vormittägliche Inselrundfahrt nannte, ließ indessen ganz andere Alarmglocken schrillen. Ich musste Macorig möglichst noch heute um eine A-Konto-Zahlung auf mein erstes Gehalt bitten, sonst würde ich mir Balaor nicht mehr lang leisten können.
Scaramuzza schien meine Gedanken zu erraten. „Du kannst mir das Geld auch ein andermal geben, Carozzi. Du hast den Job bei Macorig doch bekommen?“
„Scheint so.“
„Hätte mich auch gewundert, wenn's nicht so gewesen wäre. Hat mich überhaupt gewundert, dass sich jemand findet, der den alten Schutthaufen wieder flottmachen will.“
„Vielleicht kommen wir mit diesen Steinen ja sogar noch einmal ins Geschäft“, deutete ich vielsagend an.
„Sind wir doch gerade“, antwortete Scaramuzza verschmitzt und klatschte zum Aufbruch.
Scaramuzzas Trawler lag an einem schon etwas weiter außerhalb gelegenen Anlegeplatz des Mandracchio abseits der schönen Hochseejachten, zu denen er auch nicht gepasst hätte. Das Boot war zwar geräumig und praktikabel geschnitten, machte aber, da es von Wind und Wetter schon reichlich gegerbt und zerschrammt war, einen eher desolaten Eindruck.
„Fürchte dich nicht“, sagte Scaramuzza, dessen bemerkenswertes Talent zum Gedankenlesen mich allmählich beunruhigte. „Die alte Schaluppe sieht zwar aus, als wäre sie bereits in der Seeschlacht von Lissa mit von der Partie gewesen. Aber sie hat schon so manchen Zentner Thunfisch eingeholt und ganze Langustenarmeen in die Reusen getrieben. Erst voriges Jahr habe ich sie mit einem funkelnagelneuen japanischen Außenborder und einem GPS-Satellitennavigationssystem aufgerüstet. Damals wusste ich allerdings noch nicht, dass mein letzter Fischfang kurz bevorstand.“
Das Boot hatte die Nummer 1MN2152 EROS, was mich optimistisch stimmte. Es war ein kurzer, aber relativ breiter Kahn mit einem geduckten blauen Kabinenverschlag, in dem Boldos Cockpit untergebracht war. Von dieser bescheidenen Brücke aus erstreckte sich bis zum Bug ein großes, weißes Sonnensegel von der üblichen Ballenbreite. Zur kargen Ausstattung des Kutters gehörte neben einigen roh gezimmerten Holzbänken an den Bordkanten eine mittelgroße Seilwinde. Das Netz darauf sah aus, als wäre es schon vor langer Zeit zum letzten Mal eingeholt worden. Ein Eindruck, der durch die ausgebleichten Panzer einiger kleiner Taschenkrebse und ein paar längst verdörrte Heuschreckenkrebse, die sich darin verfangen hatten, nur noch verstärkt wurde.
Behände hüpfte Scaramuzza von der Mole hinunter auf sein Boot, das ob der gewaltigen Dimensionen seines Körpers nach dem Aufprall arg ins Schwanken geriet. Dann schob er eine abgetreppte Planke über den Bootsrand bis an die Hafenmauer, über die ich mehr balancierte als schritt.
„Siehst du, wieviel Grün da aus den Mauern sprießt?“, fragte mich Scaramuzza und zeigte dabei auf das ledrige Strauchwerk, das zwischen den brüchigen Mauersteinen hervorquoll. „Wenn erst einmal die Grasbüschel aus der Mole brechen, hat man früher gesagt, dann lebt ein Hafen nicht mehr lange.“
Ich konnte Scaramuzza nicht widersprechen. Die Dammmauer, vor der die Eros lag, sah mit ihren rostigen Ankerpollern, Kettenwinden, Kränen und Seilwerken wie ein Schiffsfriedhof aus. In dieses Bild fügten sich auch die beiden Schiffsskelette ein, die wohl schon seit Jahren neben Scaramuzzas Kahn vor Anker lagen und sich bereits so weit abgesenkt hatten, dass ihre Kiele wie geborstene Totensäulen aus dem Hafenbecken ragten, während der Schiffsrumpf unter Wasser langsam vor sich hin faulte.
Scaramuzza warf den Motor an und fuhr, entlang der rostrot, ockergelb und meerblau getünchten Fassaden einstöckiger Häuser, im schmalen Kanal Richtung Hafenausfahrt. Wir glitten am Kühlhaus der Fischereigenossenschaft vorbei, vor dem gerade Dutzende von Fischpaletten auf Kühlwagen verladen wurden, während sich in einem zum Kanal hin offenen Vorbau einige Arbeiterinnen ans Enthäuten eines frischen Fangs von Dornhaien machten, von denen etliche noch mit einem letzten Rest elektrisch zuckenden Lebens aufgeladen waren.
Zwischen zwei kleinen Palazzi im venezianischen Stil, welche die Fahrrinne zur Rechten und zur Linken säumten, lief unser Boot dann ins offene Meer aus. Die Sonnenuhr auf einem der Palazzi fiel mir ins Auge, weil ihr Zifferblatt die Form einer Jakobsmuschel hatte. Der Zeigerschatten erinnerte mich daran, dass es nun schon kurz nach halb zehn war. Ob Belli heute Vormittag noch mit meinem Kommen rechnete?
Die Eros schlingerte wie ein aufgerollter Knäuel durch zahlreiche kleine Wasserstraßen zwischen Inseln und Buchten und zog beständig einen weißen Gischtfaden hinter sich her.
„An Inseln fehlt es uns wahrlich nicht hier in Balaor“, sagte Arcimboldo Scaramuzza, „jede hat ihre eigene, unverwechselbare Form, aber dennoch ähneln sie einander im Grunde alle. Die größeren gleichen dem Rücken eines Delphins, die kleineren jenem einer Schildkröte. Natürlich hat sich Professor Belli nicht für die Schildkröte, sondern für den Delphin entschieden.“
„Bewundernswert, wie Sie sich in diesem Labyrinth zurechtfinden“, bemerkte ich, um unser Gespräch in Gang zu halten.
„Ach, das lernst du im Laufe eines Lebens. Am Anfang verstellt dir das Meer in seiner übermächtigen Bedeutsamkeit den Blick aufs Detail, doch irgendwann weißt du, dass du dich nur an die Strömungen halten musst. Du siehst, dass das Meer wie ein Gebirge seine Täler, Pfade, Schluchten und Steige hat, und zuletzt beginnst du sogar, ihnen Namen zu geben. Wir durchqueren gerade das Tal des toten Mannes. Aber es gibt auch ein Tal der Fische, ein Tal der Sarazenen, das Tal des schlechten Wetters, ein Tal der Rinderfurt. Und jedes dieser Meerestäler erzählt eine Geschichte, mindestens.“
„Und warum darf die Eros in diesen Tälern nicht mehr auf Fischfang gehen?“, fragte ich unvermittelt, da meine Neugier, was dieses Thema betraf, im Zusammenhang mit dem seltsamen Unfall Lukobrans beträchtlich angewachsen war.
„Ach, das hängt mit ein paar alten Sitten und Bräuchen zusammen“, erwiderte Scaramuzza. „Vielleicht auch damit, dass diese alten Sitten nicht mehr in die heutige Welt passen. Aber das ist eine Geschichte, die man besser nicht auf hoher See erzählt.“
„Bringt sie etwa Unglück?“
„Wie man's nimmt. Auf hoher See sollte man lieber Hymnen als Klagelieder singen. Das gefällt den Meergöttern besser. Denn auch die wollen unterhalten sein. Willst du ein Gedicht hören, Carozzi?“
„Nun ja, ich bin zwar kein Meergott, ...“
Scaramuzza grinste.
„... aber stets auf der Suche nach einer Najade, stimmt's? Gilda ist eine Najade. Eine echte Zauberin, wie Circe. Sie versteht was von Wein, und sie versteht es auch, die Kostbarkeiten des Meeres auf wunderbare Weise in Menschennahrung zu verwandeln. Findest du nicht?“
„Das kann sie sicher“, sagte ich, über die offensive Art, wie er mir seine Tochter andiente, etwas überrascht. „Aber Sie wollten doch ein Gedicht vortragen.“
„Du solltest mich nicht siezen, Carozzi. Ich tu's ja umgekehrt auch nicht.“
Scaramuzza drehte das Steuerrad herum und die Eros änderte mit einer schnellen Drehung ihren Kurs, während eine brechende Welle über die Reling schwappte und einige erfrischende Tropfen über meine Stirn sprengte.
„Das Gedicht heißt In Sichtweite“, fuhr Scaramuzza, von der plötzlichen Fontäne unbeeindruckt, fort und hob mit seiner tiefen, voluminösen Stimme zu rezitieren, ja beinahe zu singen an:
Landumschlossen
Meerumflossen.
Offene Bucht,
Die das Weite sucht.
Salz auf den Lippen,
Honigweinnippen.
Querbeet die Jacht,
Wenn der Strand verflacht.
Schoß der Gezeiten,
Netze, die gleiten,
Bis an flackernden Docht
Die Sturmbö pocht.
Schlürfende Wellen,
Quallenaufquellen.
Wasserbedacht
Pendelt die Fracht
In schwankenden Booten
Fischfangquoten,
Solang in Leuchtturms Sicht
Sich die Welle bricht.
Ich war überzeugt, dass Scaramuzza sein feuchtes Kehrmanöver nur deshalb vollzogen hatte, um sein Gedicht möglichst eindrucksvoll in Szene setzen zu können. Er hatte, wie nicht nur das etwas übertriebene Pathos seiner Verse verriet, einen unübersehbaren Hang zur großen, theatralischen Geste und ich wusste immer noch nicht recht, ob ich diese Neigung sympathisch und schrullig oder eher beängstigend finden sollte.
Ich applaudierte jedenfalls, auch wenn mein Klatschen gegen jenes der Wellen chancenlos blieb.
Scaramuzza setzte nämlich gerade erneut zu einer unvermuteten, abermals tropfnassen Kehrtwendung an und steuerte in großem Bogen auf eine Uferböschung zu, vor der, keine zweihundert Meter von der Anlegestelle entfernt, ein dreimannshohes Steinkreuz auf einem winzigen Felseneiland aus dem Meer ragte.
„Ecco la! Wir sind auf der Katharineninsel“, rief Scaramuzza und spuckte über den dichten Brustpelz, der aus seinem halb offenen Hemd quoll, in weitem Bogen ins Brackwasser. „Das Inselkloster haben einst die Franziskaner errichtet. Während des Zweiten Weltkriegs ist es dann in einen Marinestützpunkt umgebaut worden. Danach stand es etliche Jahrzehnte leer, ehe der Professore es kaufte und sich hier häuslich niederließ.“
Die Eros glitt sanft und geschmeidig in das Landungsbecken, in welchem das grüne Meerwasser so klar und durchsichtig schimmerte, dass man am Grund sah, wie die Meerkrebse mit den Napfschnecken Fangen spielten und sich, sobald sie eines ihrer wesentlich kleineren und scheinbar wehrlosen Opfer erhascht hatten, triumphierend daraufsetzten. Die Opfer schienen sich daraus indessen nicht viel zu machen, sondern zogen sich flugs in ihre spiralförmigen Häuser zurück, wo sie so lange verharrten, bis die Krebse gelangweilt wieder abzogen.
„Außer dem alten Kloster gibt es noch eine kleine Fischerkneipe auf der Insel. Sie ist gleich dort drüben, hinter der Anlegestelle“, sagte Scaramuzza. „Ich werde dort auf dich warten.“
Scaramuzza vertäute sein Boot. Der Espresso, den er mir nun schon vor einer knappen Stunde serviert hatte, drückte noch immer fest auf meinen Magen. Doch ich war mir nicht sicher, ob es tatsächlich nur der Espresso war.
Fortsetzung folgt
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