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Gefüllte Siebenschläfer - Teil 14
02.08.07 @ 18:35
Als Boldo mich an der Hafenmole absetzte, lehnte ich seine Einladung, noch auf einen Drink in die Fortuna zu kommen, ab, obwohl es vermutlich klüger gewesen wäre mitzukommen und Gilda meinen Plan persönlich vorzutragen. Doch ich wurde durch laute Schreie und wildes Getrappel abgelenkt, das von einem Schoner stammte, der unweit von Boldos Anlegestelle vor Anker lag, und meine Neugier siegte.
Der Schoner, den seine Crew in eine schunkelnde Seebühne von recht überschaubaren Ausmaßen umgebaut hatte, war eine schon ziemlich heruntergekommene, aber allem Anschein nach immer noch leidlich seetüchtige Schaluppe, die nicht nur wie ein Piratenschiff aussah, sondern auf dem Vordermast auch eine schwarze Fahne gehisst hatte. Der Kahn war, wie sich am Bug nachlesen ließ, auf den Namen PHAROS getauft. Was das bedeutete, war einem Transparent zu entnehmen, das zwischen Vorder- und Hintermast über einer hölzernen Tribüne aufgespannt war. „Political HARbour OppoSite theatre“ stand in großen Lettern darauf. Die Großbuchstaben leuchteten in rotem Lack, was auf dem porösen Segeltuch aussah, als hätte man sie mit Blut geschrieben.
Nein, Subtilität war Sache dieser theatralischen Formation nicht, ganz im Gegenteil: Was die jungen Leute da aufführten war Agitprop vom Grellsten. Kein Wunder, schloss ich messerscharf, schließlich ging das griechische Wort „Pharos“ auf die Mutter aller Leuchttürme im Hafen von Alexandria zurück, immerhin eines der sieben Weltwunder.
Das Schauspiel war in Commedia dell'Arte-Manier angelegt, experimentierte viel mit Körpertheater und erinnerte in seinen besten Momenten an die Hinterhoftheaterstücke von Dario Fo. In der Tat wäre das Spiel nicht ohne ästhetischen Reiz und schon gar nicht ohne politische Sprengkraft gewesen, hätte der Regisseur in den entscheidenden Momenten nicht immer wieder zur Holzhammermethode gegriffen und die Einsichten, die ein leidlich intelligenter Zuschauer ganz von allein hätte gewinnen können, durch ein Übermaß an Deutlichkeit wieder in Frage gestellt. Einmal ließ er eine Puppe mit dem Gesicht des amerikanischen Präsidenten verbrennen, dann wieder wedelten halbnackte Schauspielerinnen mit umgeschnallten Pappmascheeschwänzen im Dienste der sexuellen Befreiung, und dass eines der Hauptanliegen der Gruppe ein umweltpolitisches war, wurde vor allem dadurch deutlich, dass ein Ensemblemitglied ständig eine Gasmaske trug.
Das Stück war eine collagenartig ineinander verschachtelte Abfolge von lustvollen Bonzen-, Politiker- und Pfaffenbeschimpfungen, die, wenn sie nicht wie meist im Plakativen endeten, mitunter auch ins Groteske kippten. Am besten gefiel mir die Szene, die von einem rothaarigen Nummerngirl, das auf Stelzen wie mit Spinnenbeinen über die Schiffsplanken stakste, als „Patriarchenversenken“ angekündigt wurde.
Der Patriarch trug einen Patriarchenhut und einen schwarzen, mit einem dicken Polster ausgestopften Talar, um den er eine weiße Kordel geschlungen hatte, an der ein Holzkreuz hing. Kaum war er aufgetreten, wurde er von zwei Sbirren wie ein Päckchen mit einem engmaschigen Netz verschnürt und unter der Ankerwinde verstaut.
Die beiden Häscher trugen Schnabelmasken und waren mit langen Enterhaken ausgerüstet, auf denen zerschlissene schwarze Müllsacke wie Banner der Anarchie wehten.
Sobald das Nummerngirl seine Stelzen abgelegt und eine purpurrote Richterrobe umgeworfen hatte, begann es mit dem Verlesen der Anklageschrift, während die übrigen Mitglieder der Gruppe, nunmehr allesamt mit Gasmasken ausgerüstet, im Hintergrund Salsa tanzten. Jedesmal, wenn einer der Anklagepunkte verlesen war, stimmten die beiden Sbirren ein schauriges „Elo! Ela!“ an und stachen auf den Patriarchen mit ihren Enterhaken ein wie die kleinen Teufelchen bei Hieronymus Bosch. Nach der Verlesung des Sündenregisters wurde der lauthals protestierende Patriarch mit einem Anker an der Kranwinde hochgezogen und ausgeschwenkt, bis er hilflos über dem Hafenbecken zappelte. „Va in malòra, in malòrsegna!“, feixten die Sbirren.
„Va in casin de le galine! Va sul porco vovo! Va sul mus!“, brüllten die Salsatänzer durch ihre gelüpften Gasmasken. Ich bat einen der neben mir stehenden Passanten, die sich mittlerweile vor dem Theaterschiff versammelt hatten, um das Spektakel zu beobachten, mir die Wortfetzen zu übersetzen. Doch der lachte nur und antwortete: „Das genau zu übersetzen ist nicht möglich, aber wenn Sie es für eine balaoranische Version von 'Geh zum Teufel!' halten, so liegen Sie damit sicherlich nicht falsch.“
Während der Patriarch weiterhin am Kran über der Ankerwinde baumelte, richteten die Salsatänzer dahinter eine riesige Gliederpuppe auf, die sie flink mit einer Ritterrüstung aus Pappendeckel bekleideten, bevor sie ihr zu meiner großen Überraschung zwei riesige Engelsflügel umschnallten und ein Schwert in die eine sowie eine Waage in die andere Hand drückten.
„In nomine Dio avanti! In nomine Dio avanti!“, skandierten die Tänzer, die nunmehr ihre Gasmasken abgenommen hatten, dazu im Chor.
Nun endlich schlug die Stunde des Patriarchen, der in seinem Netz unter lautem Johlen der gesamten Truppe mit der Seilwinde langsam ins Meer hinabgelassen wurde, bis er blubbernd in den Wellen verschwand. Nach einigen langen Sekunden des Schweigens wurde er wieder hochgezogen, und jedesmal, wenn der Patriarch auftauchte, spie er wie ein Walfisch in weitem Bogen eine Fontäne aus schmutzigem Hafenwasser aus. Die Salsatänzer forderten nunmehr im Chor, den Patriarchen endgültig zum Schweigen zu bringen. Der Sbirre an der Winde begriff den Wink und setzte unter den wie bewegte Wellenschläge klingenden „Cric crac plak plak“-Rufen des gesamten Ensembles zur endgültigen Versenkung des Patriarchen an. Erst nach einigen Minuten zog er das Netz wieder hoch, in dem sich nunmehr nicht mehr der Patriarch, sondern ein riesengroßer Plastikfisch befand.
Einige der Passanten applaudierten, doch die Szene war noch nicht zu Ende. Denn just in dem Moment, in welchem der Fisch erschien, breitete der zum Erzengel umfunktionierte Gliedermann seine beiden Schwingen aus, als wolle er zum Flug über Balaor ansetzen. Das Nummerngirl in der Richterrobe läutete unterdessen, einen Orgasmus vortäuschend, die Schiffsglocke. Der Gliedermann reckte sein Schwert gegen den Himmel. Salsatänzer und Sbirren beugten ihre Knie und stimmten einen ebenso kraftvollen wie wortdeutlichen Choral an: „Ave Maria! Gratia plena! Pater noster, qui es in coelis. O Herr, verschone uns vor dem Gifthauch der Patriarchen und erhalte uns dafür die Fische des Meeres.“
Während sie so beteten, versuchte der Engel, sich in die Lüfte zu erheben, sackte jedoch stattdessen mitsamt der Rüstung, dem Schwert und der Waage in sich zusammen. Auf den Schiffsplanken blieb nur ein Trümmerhaufen zurück. Der Choral verstummte, das Stück schien zu Ende zu sein.
Tatsächlich jedoch gab es noch ein Nachspiel, wenngleich in völlig unterschiedlicher Besetzung. Die Geschichte des Patriarchenversenkens endete nämlich in Wahrheit damit, dass ein Polizeikonvoi vorfuhr. Ein kleiner, aber bis an die Zähne bewaffneter Stoßtrupp enterte beherzt die im Hafenbecken schunkelnde Pharos, nahm sämtliche Mitglieder der Theatergruppe fest und ließ sie in einem Panzerwagen verschwinden.
Die grüne Minna war gerade um die Ecke gebogen, als dem Hafenbecken ein tropfnasser Adonis entstieg, der seine Scham unter einem dicken Polster verbarg und den durchnässten Patriarchentalar wie das Goldene Vlies um seine Schulter trug. Als er sah, wieviel Aufmerksamkeit er in seiner seltsamen Aufmachung erregte, lief er eilends auf eines der Lagerhäuser zu – und zwei dort wartenden Polizisten direkt in die Arme.
„Gehören Sie auch zu dieser Truppe?“, fragte mich wie aus dem Off eine Stimme, während ich noch dem nackten Jason nachstarrte.
Die Stimme gehörte zu einem kleinen Mann mit unnatürlich schwarzem, kurz geschnittenem Haar und Dreitagebart, zu dem die waschblaue Krawatte, die er über seinem kurzärmeligen Hemd trug, nicht recht passen mochte.
„Wie kommen Sie drauf?“
„Ach, ich dachte nur, Sie seien vielleicht der Dramaturg dieses – Theaters.“
„Seh ich denn so aus?“
„Ehrlich gestanden, ja.“
„Ehrlich gestanden bin ich aber kein Dramaturg, sondern Archäologe.“
Der Mann mit dem Kurzhaarschnitt und der unpassenden Krawatte musterte mich mit dem Blick einer sprungbereiten Dogge. Doch dann hellte sich sein Gesicht auf.
„Ach Sie sind das! Ich habe schon von Ihnen gehört“, sagte er fast erleichtert. „Sie habe ich mir, ehrlich gesagt, ganz anders vorgestellt.“
„Krauses graues Haar, dünnrändige Brille, irrer Blick und ein Rucksack, aus dem eine Spitzhacke hervorlugt. Stimmt's?“
„Nein, ganz falsch. Ich dachte eher an den Jäger des verlorenen Schatzes.“
„Ja, an den denken viele, wenn sie von meiner Profession hören. Aber mit Professor Indiana Jones kann ich es leider weder an Reichtum noch an Schönheit aufnehmen.“
Mein Gegenüber strich sich verlegen über seinen Dreitagebart, der in Wahrheit schon ein Fünftagebart war und durch die deutlichen grauen Einsprengsel erkennen ließ, dass er sich nur sein Haupthaar so rabenschwarz färbte.
„Ich wollte Ihnen nicht nahetreten.“
„Und was hätten Sie gemacht, wenn ich wirklich Dramaturg gewesen wäre?“
Ein breites Lächeln erstreckte sich vom einen seiner etwas zu hoch sitzenden Backenknochen zum anderen. Und dann sagte er, fast ein wenig schüchtern:
„Dann hätte ich Sie verhaftet.“
Er hüstelte nervös.
„Es ist wohl an der Zeit, dass ich mich vorstelle: Kommissar Gradnik, Joschko Gradnik, Kriminalpolizei von Balaor.“
Er streckte mir die Hand entgegen, doch ich zögerte, sie zu nehmen.
Ich stellte mich dumm und fragte: „Weshalb?“
„Mord, Dottore Carozzi, oder zumindest Beihilfe zum Mord.“
Ich ließ seine Hand in der Luft hängen, wo sie blieb, bis er sie achselzuckend zurückzog.
„Woher wissen Sie, wie ich heiße?“
Gradnik fischte ein Päckchen Rolltabak aus seiner Hemdtasche und drehte sich daraus eine Zigarette.
„Ich wäre ein schlechter Kriminalist, wenn ich nicht wüsste, was in meiner Stadt vorgeht.“
„Überprüfen Sie alle Neuankömmlinge?“
„Nur die auffälligen. Und es kommt nicht alle Tage vor, dass ein Archäologe nach Balaor kommt, schon gar nicht, wenn zeitgleich ein Erzengel über den Fischereidirektor herfällt.“
„Sie haben diese armen Schauspieler doch nicht in Verdacht, Lukobran ermordet zu haben, nur weil in ihrem wirren Stück ein Engel auftritt?“
„Ich muss feststellen, dass Sie sich für einen Neuankömmling in dieser Stadt ziemlich gut auskennen.“
„Ja, man hat so seine Zuträger.“
„Hat man die?“
„Unter anderem auch den Präfekten persönlich. Ich bin ja gewissermaßen in den Staatsdienst getreten.“
„Hat er Ihnen gesagt, es handle sich um Mord?“
„Nein, er sprach von einem bedauerlichen Unfall.“
„Warum nehmen Sie dann an, ich sei anderer Meinung als der Präfekt?“
„Sie hätten mich doch gerade um ein Haar unter Mordverdacht verhaftet.“
„Wenn Sie ein Mitglied der Theatergruppe gewesen wären, ja.“
„Aber haben Sie irgendwelche Beweise?“
Gradnik fischte einen in Blockschrift bekritzelten Fetzen Papier aus seiner Hemdtasche, der gleich neben dem Rolltabak steckte, und hielt ihn mir unter die Nase.
„Das kennt selbst der Präfekt noch nicht. Sagt Ihnen der Satz etwas?“
Ich warf einen Blick auf den Wisch und es blieb mir nichts anderes übrig, als stumm zu nicken. Auf dem Zettel stand: Va in malòra, in malòrsegna!
Später, viel später, habe ich mir oft gedacht, dies wäre wohl der richtige Augenblick gewesen, um Gradnik gegenüber das abgebrochene Stück des Engelssockels herauszurücken und ihm von den Rußspuren zu berichten. Tatsächlich hatte ich bereits nach dem Stück Stein, das ich vorsorglich in Zeitungspapier gewickelt bei mir trug, gegriffen. Doch dann blickte ich wieder in Gradniks Doggenaugen. Das waren, so war ich mir plötzlich ganz sicher, die Augen eines Mannes, der ganz genau wussten, wie man mit Hilfe kleiner Elektroden an große Geständnisse kommt, es waren die Augen eines Geheimdienstoffiziers aus der KGB-Schule, die auf mir ruhten und mich gnadenlos durchbohrten.
Nein, ich wollte diesem Mann, und wenn er hundertmal das Gesetz vertrat, nicht in die Tasche arbeiten und ließ mein Steinchen, wo es war.
Gradnik schien meine Gedanken erraten zu haben.
„Als Neuankömmling kommen Ihnen vielleicht Dinge zu Ohren, die die Polizei so nicht erfährt“, sagte er, und da war er auch schon wieder, dieser durchdringende Spezialisten-Blick. „In einem solchen Fall sollten Sie diese Informationen aber nicht für sich behalten, Doktor Carozzi.“
Ich versprach ihm, seiner Bitte im Bedarfsfall nachzukommen, aber ich vermute, Kommissar Gradnik glaubte mir nicht.
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